Darf ich ehrlich sein?

Zu viele Fragen, zu wenige Antworten.

What are the chances, dass ich gleich am Tag nach der Ankündigung dieses Newsletters einem meiner ersten Abonnent:innen über den Weg laufe? Während in meinem Ohr “The Air That I Breathe” in Dauerschleife läuft, blockiert mich ein Klapprad vor dem Zebrastreifen, ein Medienunternehmerkollege.

In fünf Minuten erzählen wir uns, was in den vergangenen neun Monaten seit unserem letzten Aufeinandertreffen passiert ist. Er zählt auf, was er in dieser Zeit alles erreicht hat. Ich sage ihm, was nicht funktioniert hat. Nachdem wir uns trennen, fange ich zu grübeln an: Warum geht bei ihm alles auf, warum bekomme ich nichts auf die Reihe.

Und dann weiter: Vielleicht hatte er auch Misserfolge, die er längst abgehakt hat. Vielleicht sollte ich einfach die Klappe halten oder einen Filter einbauen, der das Negative zensiert. Das sind Momente, in denen ich merke, dass ich für diese Welt nicht gemacht bin. Denn entweder geht es allen gut oder ich darf nicht ehrlich sein. Hätte ich auch Investor:innen, mehr Reichweite und mehr Erfolg, wenn ich nur Positives aussprechen würde? Das werde ich wohl nie wissen, denn dann müsste ich ein ganz anderer Mensch werden.

Diese Fragen beschäftigen mich seit Jahren so sehr, dass ich mich selbst blockiere. In einer Welt, in der wir uns selbst beweihräuchern und immer die anderen die Bösen sind, wo ist da noch Platz für meine selbstreflexiven Gedanken? Und wem helfen diese Zeilen, wenn sie nicht mit “5 Tipps, wie auch du hübsch und reich wirst” betitelt sind. Muss jeder Inhalt im Netz einen Mehrwert liefern?

“Du sprichst das aus, was andere nicht aussprechen können”, hat mir gestern eine Freundin auf diese Fragen geantwortet. Nur: Lässt sich das monetarisieren? Muss es sich monetarisieren lassen? Das bringt uns zurück zum Medienunternehmertum. Ich weiß, dass ich das Potenzial habe, etwas Großes aufzubauen. Ich weiß nur nicht, ob mein Energielevel konstant genug ist, um es durchzuziehen. Das unterscheidet mich vom erwähnten Branchenkollegen und vielen anderen Gründer:innen, die ich als Vorbilder sehe. Was mich trotzdem antreibt: Es gibt zu wenige Menschen, die unternehmerisch denken, und noch weniger Journalist:innen mit meiner sozialen Herkunft, die unternehmerisch denken. Diese Vielfalt braucht es, doch Potenzial und Ideen allein reichen nicht, und Ehrlichkeit hilft wahrscheinlich nicht wirklich.

Und jetzt stelle ich diese Frage an dich: Darfst du ehrlich sein?

Bis bald,
Lisa